BGH v. 5.6.2024 - XII ZB 493/22

Unwirksame Zustellung wegen wesentlicher Abweichungen zwischen Urschrift und zugestellter Ausfertigung

Nur wesentliche Abweichungen zwischen Urschrift und zugestellter Ausfertigung führen zur Unwirksamkeit der Zustellung. Wesentlich sind Abweichungen, die die Entschließung über die Einlegung eines Rechtsmittels beeinflussen können. Urteilsersetzende Beschlüsse in Ehe- und Familienstreitsachen sind gem. § 113 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 311 Abs. 2 ZPO zu verkünden. Der Nachweis für die erfolgte Verkündung kann nach § 113 Abs. 1 FamFG i.V.m. §§ 165 Satz 1, 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO nur durch das Protokoll geführt werden.

Der Sachverhalt:
Der Antragsgegner wendet sich in einem güterrechtlichen Verfahren gegen die Verwerfung seiner Beschwerde. Das AG verpflichtete den Antragsgegner mit einem am 7.3.2022 zugestellten Beschluss, der einen auf den 24.2.2022 lautenden Verkündungsvermerk trägt, zur Zahlung eines Zugewinnausgleichs i.H.v. rd. 83.000 € nebst Zinsen an die Antragstellerin.

Auf Beanstandungen der Beteiligten über Unvollständigkeiten des Beschlusses wies das AG am 8.3.2022 darauf hin, dass den Beteiligten "versehentlich Ausfertigungen des am 24.2.2022 verkündeten Beschlusses übersandt" worden seien, die wahrscheinlich aufgrund von Formatierungsfehlern bei der Textverarbeitung nicht mit dem Originalbeschluss in der Gerichtsakte übereinstimmten. Zugleich bat es die Beteiligten, die "übersandten Beschlüsse zurückzureichen", damit die "Entscheidung erneut zugestellt werden" könne.

Gegen den ihm am 24.3.2022 erneut zugestellten Beschluss legte der Antragsgegner mit am 20.4.2022 eingegangenem Schriftsatz Beschwerde ein und begründete diese innerhalb der vom OLG antragsgemäß bis zum 24.6.2022 verlängerten Beschwerdebegründungsfrist. Das OLG verwarf nach entsprechendem Hinweis auf die Nichtwahrung der Rechtsmittelfrist die Beschwerde. Auf die Rechtsbeschwerde des Antragsgegners hob der BGH den Beschluss des OLG auf und verwies die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass das OLG keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt hat, welche ausgehend von seinen Feststellungen von Amts wegen hätte bewilligt werden müssen.

Die Beschwerde ist nicht rechtzeitig eingelegt worden. Die in § 63 Abs. 1, 3 Satz 1 FamFG bestimmte Monatsfrist begann nach § 113 Abs. 1 FamFG i.V.m. §§ 317 Abs. 1 Satz 1, 166 Abs. 2 ZPO ohne Rücksicht auf die Mängel der Beschlussausfertigung bereits mit der am 7.3.2022 erfolgten Zustellung zu laufen. Nach ständiger BGH-Rechtsprechung kommt es bei Abweichungen zwischen Urschrift und zugestellter beglaubigter Abschrift für die Wirksamkeit der Zustellung als Voraussetzung für den Beginn der Rechtsmittelfrist entscheidend darauf an, ob die zugestellte beglaubigte Abschrift formell und inhaltlich geeignet war, den Beteiligten die Entschließung über die Notwendigkeit der Einlegung eines Rechtsmittels zu ermöglichen. Der Zustellungsempfänger muss aus der beglaubigten Abschrift wenigstens den Inhalt der Urschrift und vor allem den Umfang seiner Beschwer und die tragenden Entscheidungsgründe erkennen können. Dies war hinsichtlich der am 7.3.2022 zugestellten beglaubigten Abschrift der Fall. Aus Tenor und Gründen der Abschrift ergab sich seine Verpflichtung zur Zahlung des konkreten Zugewinnausgleichsbetrags.

Das OLG hätte jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdeeinlegungs- und -begründungsfrist bewilligen müssen. Der Antragsgegner hat diese Fristen unverschuldet versäumt (§ 113 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 233 Satz 1 ZPO). Ein Verschulden seines Verfahrensbevollmächtigten ist unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls nicht gegeben. Zwar ist die verspätete Einlegung des Rechtsmittels auf den Irrtum des Rechtsanwalts über die den Fristlauf auslösende Zustellung zurückzuführen. Dass dieser Irrtum auf der Mitteilung des Gerichts beruhte, entlastet den Rechtsanwalt noch nicht ohne Weiteres. Denn auf eine unzutreffende Rechtsauskunft des Gerichts darf er sich nicht ohne Weiteres verlassen, sondern ist verpflichtet, die sich bei der Verfahrensführung stellenden Rechtsfragen in eigener Verantwortung zu überprüfen.

Anderes gilt jedoch, wenn dem Rechtsanwalt vom Gericht gegebene Informationen sich auf gerichtsinterne Vorgänge beziehen und die Unrichtigkeit der Informationen mithin nicht ohne Weiteres zu erkennen ist. Erklärt etwa das Gericht die bereits erfolgte Zustellung für unwirksam und ist die Unrichtigkeit dieser Information für den Rechtsanwalt nicht ohne weiteres erkennbar, so trifft den Rechtsanwalt kein Verschulden, wenn er davon ausgeht, dass erst die wiederholte Zustellung wirksam ist und den Lauf einer Frist auslöst. So liegt es auch hier. Die Aufforderung, die zugestellte Ausfertigung zurückzusenden, erfolgte durch die zuständige Richterin. Zwar waren den Beteiligten Unvollständigkeiten aufgefallen, jedoch war damit dem Rechtsanwalt das konkrete Ausmaß der Abweichungen von der erlassenen Entscheidung nicht erkennbar. Aus diesem Grund konnte er auch nicht aus eigener Kenntnis von der Wirksamkeit der ersten Zustellung ausgehen. Zumal er die erhaltene Ausfertigung auf die Aufforderung des Gerichts zurückgegeben hatte, ist ihm nicht vorzuwerfen, dass er hinsichtlich des Laufs der Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist die zweite Zustellung für maßgeblich gehalten hat.

Der angefochtene Beschluss war daher aufzuheben. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass die nach § 113 Abs. 1 FamFG, §§ 329 Abs. 1, 310 f. ZPO erforderliche Verkündung des erstinstanzlichen Beschlusses in der Akte nicht in der gebotenen Form nachgewiesen ist. Der Nachweis für die erfolgte Verkündung kann gem. § 113 Abs. 1 FamFG i.V.m. §§ 165 Satz 1, 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO nur durch das Protokoll geführt werden. Dieses ist grundsätzlich spätestens innerhalb von fünf Monaten nach der Verkündung zu erstellen. An einem Protokoll über die Verkündung der Entscheidung am 24.2.2022 fehlt es hier indes. Der auf den 24.2.2022 lautende Vermerk der Geschäftsstelle über die Verkündung einer Entscheidung hat keine dem Protokoll vergleichbare Beweiskraft und kann deshalb die erforderliche Feststellung der Verkündung in einem Protokoll nicht ersetzen.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 26.07.2024 16:48
Quelle: BGH online

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