Aktuell in der MDR

Risikotragung für fehlerhafte oder überhöhte Rechnungen im Haftungsrecht des Straßenverkehrs (Zwickel, MDR 2024, 809)

Nach Verkehrsunfällen im Straßenverkehr weigern sich Kfz-Haftpflichtversicherungen auf Basis entsprechender interner oder externer Prüfberichte oft, Teile einer Reparatur- oder Sachverständigenrechnung zu zahlen. Für den Geschädigten ist aber bei der Beauftragung der Werkstatt bzw. des Sachverständigen nicht abzusehen, in welcher Höhe diese Leistungsträger abrechnen werden. Die Rechtsprechung hat daher Grundsätze dafür entwickelt, wer das Risiko einer überhöhten oder fehlerhaften Rechnung trägt. Seit Beginn des Jahres 2024 hat sich der BGH in mehreren Urteilen mit dieser Thematik befasst, deren Kernaussagen im folgenden Beitrag zu einem Gesamtsystem der Risikotragung für fehlerhafte bzw. überhöhte Rechnungen im Haftungsrecht des Straßenverkehrs zusammengeführt werden.


I. Das Problem

II. Bestätigung des Grundsatzes „Werkstattrisiko trägt der Schädiger“

III. Vom Werkstattrisiko zum allgemeinen Prinzip der Risikotragung

1. Gleichsetzung von Werkstatt- und Sachverständigenrisiko

2. Neue, weitere Kernaussagen zum Werkstatt- bzw. Sachverständigenrisiko

a) Grundsatz der Risikotragung durch den Schädiger auch bei nicht bezahlter Rechnung

b) Grundsatz der Risikotragung durch den Schädiger auch bei Abrechnung gar nicht durchgeführter Arbeiten

c) Grundsatz der Risikotragung durch den Schädiger nicht bei Abtretung

d) Grundsatz der Risikotragung durch den Schädiger nicht bei Auswahl- und Überwachungsverschulden des Geschädigten

3. Zwischenfazit

IV. Prüfungsschema

V. Analyse und Erläuterung des Systems der Risikotragung für überhöhte oder fehlerhafte Rechnungen

1. Geltung der Grundsätze der Risikotragung

a) Grundsatz der Risikotragung des Schädigers (Schritt 1)

b) Ausnahme: Fehlende Unfallkausalität (Schritt 2.1)

c) Ausnahme: Auswahl- und Überwachungsverschulden (Schritt 2.2)

aa) Grundlagen

bb) Neue Bedeutung der Plausibilitätskontrolle

cc) Problematik des „Unfallhelfers“ und des „Schadenservice aus einer Hand“

dd) Keine Verpflichtung zur Einholung eines unabhängigen Sachverständigengutachtens

d) Bedeutung der Zahlung der Rechnung bzw. des Zahlungsverlangens (Schritt 3)

aa) Grundsätze

bb) Vom Geschädigten bezahlte Rechnung (Schritt 3.1)

cc) Nicht bezahlte Rechnung (Schritte 3.2.1, 3.2.2 und 3.2.3)

e) Abtretung des Anspruchs an die Werkstatt / den Sachverständigen (Schritt 4)

f) Zusammenfassung

2. Reichweite und Umfang des Ersatzes bei Anwendung der Grundsätze der Risikotragung

a) Gültigkeit der Grundsätze zur Risikotragung auch für die Ersatzbeschaffung

b) Maximalhöhe bei Anwendung der Grundsätze der Risikotragung

3. Verlagerung der Klärung überhöhter Rechnungen auf den Regressprozess

VI. Prozessuale Auswirkungen

1. Änderung der Beratungspraxis und Umstellung der Klageanträge

2. Verbot der Beweisaufnahme über die Erforderlichkeit

VII. Fazit und Ausblick


I. Das Problem

Der BGH hat in fünf Urteilen vom 16.1.2024 ein teils neues Konzept für das sog. Werkstattrisiko entwickelt. Diese Grundsätze zum Werkstattrisiko übertrug der BGH in einer Entscheidung vom 12.3.2024 auch auf Sachverständige. Mit Urteil vom 23.4.2024 schärfte der BGH den für die Tragung des Sachverständigen- bzw. Werkstattrisikos relevanten Begriff der Plausibilitätskontrolle nach.

Was aber ist überhaupt das Werkstatt- bzw. Sachverständigenrisiko? Regelmäßig wählt der Geschädigte eines Verkehrsunfalls für den Ersatz des Schadens an seinem Fahrzeug den Weg des § 249 Abs. 2 S. 1 BGB. Statt einer Wiederherstellung des Zustands vor dem Unfall durch den Schädiger (§ 249 Abs. 1 BGB) lässt der Geschädigte das Fahrzeug begutachten und vertraut es einer Fachwerkstatt zur Reparatur an. Vom Schädiger verlangt er dann „statt der Herstellung den dazu erforderlichen Geldbetrag“ (§ 249 Abs. 2 S. 1 BGB) und darf zwischen den Restitutionsformen der Instandsetzung und Ersatzbeschaffung wählen. Nach dem vom BGH dem § 249 Abs. 2 BGB entnommenen Wirtschaftlichkeitspostulat hat sich der Geschädigte stets für den Weg zu entscheiden, der den geringeren Aufwand erfordert. Die Frage nach der Tragung des Werkstatt- bzw. Sachverständigenrisikos bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen objektiver und subjektivierter Schadensbetrachtung. Grundsätzlich bemisst sich der als Ersatzleistung geschuldete erforderliche Geldbetrag nach objektiven Kriterien. Maßgeblich ist also nicht der auf der Rechnung ausgewiesene Betrag, sondern derjenige, der nach objektiven Maßstäben für die Wiederherstellung des Status quo ante erforderlich ist. Stellt sich nun in der letzten mündlichen Verhandlung, dem prozessual maßgeblichen Zeitpunkt der Schadensbemessung, heraus, dass die Werkstatt zu viele Stunden für die Reparatur verwendet hat, der Sachverständige zu hohe Stundensätze abgerechnet hat oder auf der Rechnung erwähnte Arbeiten gar nicht durchgeführt wurden, steht fest, dass dafür anfallende Kosten objektiv nicht erforderlich sind. Der BGH schränkt aber in ständiger Rechtsprechung diese strenge Objektivität des Merkmals „erforderlich“ in § 249 Abs. 2 S. 1 BGB ein. Zu ersetzen sind die Maßnahmen der Schadensbeseitigung, die ein verständiger Fahrzeugeigentümer in der besonderen Lage des Klägers unternehmen würde (sog. subjektbezogene Schadensbetrachtung). Aus einer ex ante-Perspektive des Geschädigten, der auf Werkstatt und Sachverständigen vertrauen darf, war die Einschaltung derselben eine subjektiv erforderliche Maßnahme der Schadensbehebung. Die Höhe des Werkstattrisikos besteht folglich genau aus dem Unterschiedsbetrag zwischen objektiv und subjektiv erforderlichen Schadensbeseitigungskosten.

II. Bestätigung des Grundsatzes „Werkstattrisiko trägt der Schädiger“

Wem ist das Werkstattrisiko zuzuweisen? In den neuen Entscheidungen vom 16.1.2024 bestätigte der BGH den seit einer Leitentscheidung aus dem Jahr 1974 gültigen Grundsatz, dass das Werkstattrisiko beim Schädiger liegt. Der Geschädigte darf darauf vertrauen, dass die Reparatur in der Werkstatt ordnungsgemäß erfolgt. Auch überhöhte Rechnungen hat der Schädiger also zu bezahlen, es sei denn, den Geschädigten traf ein Verschulden (v.a. bei der Auswahl oder der Überwachung der Werkstatt). Der Geschädigte muss sich dadurch (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 03.07.2024 16:44
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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