OLG Hamm v. 27.2.2024 - 7 U 120/22

Autofahrer müssen an Schulbushaltestellen besonders langsam und aufmerksam fahren

Zwar darf ein Kraftfahrzeugführer nach § 20 Abs. 1 StVO im Gegenverkehr an sich vorsichtig an einem noch haltenden Bus vorbeifahren, muss sich dabei aber im Einzelfall – wie hier im Hinblick auf eine erkennbare Vielzahl von aussteigenden Kindern – nach § 3 Abs. 2a StVO so verhalten, dass eine Gefährdung eines plötzlich hinter dem Bus auf die Fahrbahn tretenden Kindes ausgeschlossen ist. Dazu muss der Kraftfahrzeugführer die Geschwindigkeit im Zweifel so weit drosseln, dass er sein Fahrzeug notfalls sofort zum Stehen bringen kann.

Der Sachverhalt:
Der Beklagte zu 1) war zum Unfallzeitpunkt mit seinem Pkw Nissan unterwegs, der bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert ist. Auf der linken Seite der Straße befand sich eine Bushaltestelle ohne Busbucht. Kurz bevor der Beklagte zu 1) die Bushaltestelle passierte, hielt auf der Gegenfahrbahn an der Haltestelle ein Linienbus. Der zum Unfallzeitpunkt 12-Jährige Kläger wollte nach Verlassen des Busses die Straße überqueren. Er trat hinter dem Bus auf die Fahrbahn und wurde von dem Beklagtenfahrzeug erfasst. Der Junge erlitt schwere Knochen- und Kopfverletzungen (19-tägiger Krankenhausaufenthalt, mehrere Operationen plus Folgeoperation mit erneuten Krankenhausaufenthalten).

Der Kläger behauptete, der Beklagte zu 1) habe sich mit unangepasster Geschwindigkeit von mind. 30 km/h der Bushaltestelle genähert. An der Bushaltestelle habe er allenfalls mit Schrittgeschwindigkeit vorbeifahren dürfen. Die Beklagten behaupteten, der Kläger sei ohne auf den Verkehr zu achten, plötzlich und unvermittelt schnellen Schrittes auf die Straße getreten. Er sei insbesondere deshalb unaufmerksam gewesen, da er auf sein Mobiltelefon geschaut habe. Der Beklagte sei max. 15 km/h schnell gewesen. Der Kläger bestritt, sein Handy benutzt zu haben.

Das LG hat dem Kläger u.a. ein Schmerzensgeld i.H.v. 8.500 €
zugesprochen. Den Mithaftungsanteil des Klägers hat es mit 30 % bestimmt. Das OLG hat die Entscheidung im Berufungsverfahren bestätigt.

Die Gründe:
Dem Kläger steht gegen die Beklagten der vom LG ausgeurteilte Anspruch auf Ersatz materieller Schäden i.H.v. 308,13 € nebst Prozesszinsen sowie auf Schmerzensgeld i.H.v. 8.500 € aus § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG, § 823 Abs. 1 BGB (i. V. m. § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG, § 1 Satz 1 PflVG) zu.

Der Beklagte zu 1) haftet als Halter und Fahrer des unfallbeteiligten Kraftfahrzeuges dem Kläger gegenüber gem. § 7 Abs. 1 und § 18 Abs. 1 StVG. Die Ersatzplicht ist nicht nach § 7 Abs. 2 StVG ausgeschlossen, da der Unfall ersichtlich nicht durch höhere Gewalt verursacht worden ist. Die Frage, ob die Ersatzpflicht aufgrund eines unabwendbaren Ereignisses ausgeschlossen ist, stellt sich entgegen dem Berufungsvorbringen in dem hier streitigen Fall der Kollision zwischen einem Kraftfahrzeug und einem Fußgänger nicht, da § 17 Abs. 3 StVG nur im Verhältnis mehrerer unfallbeteiligter Fahrzeughalter untereinander gilt (vgl. nur BGH Urt. v. 4.4.2023 – VI ZR 11/21). Im Übrigen war der Unfall ohne Weiteres unabwendbar, da ein Idealfahrer an Stelle des Beklagten zu 1) rechtzeitig stehen geblieben wäre.

Zwar darf ein Kraftfahrzeugführer nach § 20 Abs. 1 StVO im Gegenverkehr an sich vorsichtig an einem noch haltenden Bus vorbeifahren, muss sich dabei aber im Einzelfall – wie hier im Hinblick auf eine erkennbare Vielzahl von aussteigenden Kindern – nach § 3 Abs. 2a StVO so verhalten, dass eine Gefährdung eines plötzlich hinter dem Bus auf die Fahrbahn tretenden Kindes ausgeschlossen ist. Dazu muss der Kraftfahrzeugführer die Geschwindigkeit im Zweifel so weit drosseln, dass er sein Fahrzeug notfalls sofort zum Stehen bringen kann (in Übertragung von BGH Urt. v. 12.12.2023 – VI ZR 77/23).

Das LG hat festgestellt, dass der Kläger beim Überqueren der Straße gegen § 25 Abs. 3 StVO verstoßen hat, weil er, ohne zuvor auf sich nähernden Fahrzeugverkehr zu achten, hinter dem Bus über die Straße gelaufen sei. Nicht feststellen konnte das LG allerdings, dass der Kläger beim Überqueren der Straße durch sein Handy abgelenkt war. Insofern hat das LG nicht zu Lasten der Beklagten einen Mithaftungsanteil des Klägers von nur 30 % zugrunde gelegt (§ 9 StVG i. V. m. § 254 BGB). Das verkehrswidrige Verhalten des (wohl einsichtsfähigen), aber jedenfalls nach § 3 Abs. 2a StVO besonders schutzwürdigen Klägers trat hinter dem groben Verstoß des Beklagten zu 1) gegen § 20 Abs. 1 StVO und gegen § 3 Abs. 2a StVO deutlich zurück.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 03.07.2024 14:57
Quelle: Justiz NRW

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