OLG Braunschweig v. 20.6.2024 - 11 W 8/24 u.a.

Pandemie: Keine PKH zur Durchsetzung etwaiger Schmerzensgeldansprüche nach Abriegelung eines gesamten Wohnkomplexes

Die Bewohner eines Hauses, die während der Corona‑Pandemie auf Grundlage einer behördlichen Absonderungsverfügung sieben Tage lang nicht ihre Wohnung verlassen durften, um das Infektionsrisiko zu minimieren, haben keinen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, um eventuelle Schmerzensgeldansprüche gerichtlich durchsetzen zu können. Das gilt auch dann, wenn das betreffende Gebäude zur Durchsetzung der Maßnahme zeitweise mit einem Bauzaun umstellt und durch die Polizei abgeriegelt wurde, nachdem zuvor mehr als 100 der 668 Bewohner positiv auf das Coronavirus getestet worden waren.

Der Sachverhalt:
Die Kläger sind eine Vielzahl von Bewohnern eines Wohnkomplexes in Göttingen. Sie begehren mit ihren Klagen (insgesamt 40 Verfahren) von der beklagten Stadt Göttingen Schmerzensgeld wegen Freiheitsentziehung und Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts. Während der Corona‑Pandemie untersagte die Beklagte den Klägern auf Grundlage einer Absonderungsverfügung für die Dauer von sieben Tagen ihre Wohnung zu verlassen, um das Infektionsrisiko zu minimieren. Das Gebäude wurde zur Durchsetzung der Maßnahme zeitweise mit einem Bauzaun umstellt und durch die Polizei abgeriegelt. Hintergrund dieser Maßnahme war das Ergebnis einer zuvor durchgeführten Reihentestung, bei der mehr als 100 der 668 Bewohner positiv auf das Coronavirus getestet worden waren.

Die Kläger begründeten ihren Antrag auf Schmerzensgeld insbesondere damit, dass sie aufgrund der rechtswidrigen Maßnahme in ihrer Fortbewegungsfreiheit beschränkt worden seien, Hunger und Schmerzen erlitten und sich wegen der Absperrung des Gebäudes gedemütigt und stigmatisiert gefühlt hätten. Die vorliegenden Entscheidungen betreffen ausschließlich die Anträge der Kläger auf Gewährung von Prozesskostenhilfe.

Das LG lehnte die Bewilligung von Prozesskostenhilfe wegen fehlender Erfolgsaussichten ab. Die dagegen gerichteten Beschwerden der Kläger blieben vor dem OLG ohne Erfolg.

Die Gründe:
Den Kläger steht weder aufgrund der Absonderungsverfügung noch aufgrund der Absperrung des Gebäudes ein Anspruch auf Schmerzensgeld zu. Die Stadt hat die Absonderungsverfügung aus damaliger Sicht rechtmäßig zum Schutz der Bevölkerung erlassen. Man befürchtete eine exponentielle Ausbreitung des Virus in dem Gebäude. Die individuellen Interessen der Kläger als Bewohner des Gebäudes mussten daher hinter dem Schutz der Bevölkerung für Leib und Leben zurücktreten.

Auch die Absperrung des Wohnkomplexes durch den Bauzaun und die Polizei führt ‑ selbst wenn dies rechtswidrig erfolgt wäre ‑ nicht zwangsläufig zu einem Anspruch auf Schmerzensgeld. Die Kläger hätten ihre konkret erlittenen Beeinträchtigungen oder Schäden darlegen müssen. Dies ist ihnen weder in dem Verfahren vor dem LG noch im Beschwerdeverfahren vor dem OLG gelungen.

Das Gebäude durften die Kläger schon wegen der Absonderungsverfügung nicht verlassen. Inwieweit sie durch die Absperrung weitergehend beeinträchtigt wurden, haben sie nicht vorgetragen. Auch haben die Kläger nicht ausreichend dargelegt, welche gesundheitlichen oder psychischen Beeinträchtigungen sie durch das Vorgehen der Beklagten im jeweiligen konkreten Einzelfall erlitten hätten.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 01.07.2024 14:19
Quelle: OLG Braunschweig PM vom 25.6.2024

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